Die große Ungleichheit ist ein zentrales Thema in Deutschland. Politiker aller Parteien werben deshalb für die Herstellung gleicher Ausgangschancen. Dadurch allein würde unsere Gesellschaft nicht gerechter.
Von Stephan Kaufmann
Chance – das Wort hat einen guten Klang. Ebenso wie Gerechtigkeit. Aneinandergekoppelt ergeben sie einen Begriff, der fraglos gut erscheint. „Gegen Chancengerechtigkeit“, sagt der Ökonom Gustav Horn, „kann man nichts haben.“ Politiker aller Parteien werben daher für sie und mit ihr für sich. Dabei ist unklar, was Chancengerechtigkeit überhaupt bedeutet, ob sie umzusetzen ist – und ob sie die Gesellschaft überhaupt gerechter machen würde.
Armut und Reichtum werden vererbt
Die große Ungleichheit ist ein zentrales Thema in Deutschland. Nicht nur sind die Unterschiede bei den Einkommen und Vermögen hierzulande immens. Vielfach sind es auch immer dieselben Gruppen, die sich am unteren und am oberen Ende der sozialen Leiter finden. Denn Armut und Reichtum werden vererbt: Wer arme Eltern hat, der bleibt eher arm. Und natürlich umgekehrt.
Der berufliche Erfolg des Einzelnen ist stark durch das Elternhaus vorgeprägt, so das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Etwa 40 Prozent der Ungleichheit beim individuellen Arbeitseinkommen ließen sich durch den Familienhintergrund erklären, beim Bildungserfolg seien es sogar über 50 Prozent. „Das bedeutet, dass in Deutschland kaum Chancengleichheit besteht.“ Der Traum, vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden, sei eine Legende.
Die SPD wirbt daher für „mehr Chancengerechtigkeit und zeitgemäße Kompetenzförderung im Bildungssystem“. Die CDU warnt, es gebe „weniger Chancengerechtigkeit mit der SPD“. Die FDP fordert „Chancengerechtigkeit statt Umverteilung“, und ihr Chef Christian Lindner sagt: „Die Ungleichheit in Deutschland, die mich beschwert, das ist die Ungleichheit der Chancen. Die eigentliche soziale Frage ist deshalb die Bildung.“
Ins gleiche Horn stoßen viele Ökonomen: Laut Sachverständigenrat „spricht vieles dafür, ein stärkeres Gewicht auf Beschäftigung und Aufstiegschancen statt auf Umverteilung zu legen, um Teilhabe und Wohlstand zu sichern“. DIW-Chef Marcel Fratzscher sieht in der geringen Chancengleichheit und sozialen Mobilität den „wichtigsten Grund für die hohe Ungleichheit der Vermögen und Markteinkommen in Deutschland“. Die Ökonomen fordern daher vor allem bessere Bildung, damit alle die gleichen Chancen erhalten – oder zumindest einen gerechten Anteil daran.
Soweit besteht allgemeine Einigkeit. Doch wann wäre überhaupt Chancengleichheit erreicht? Wenn für alle formal die gleichen Rechte gälten? Dann wäre sie bereits umgesetzt, keinem Deutschen kann die Übernahme eines bestimmten Jobs verboten werden. Oder herrscht Chancengleichheit erst, wenn niemand wegen Hautfarbe, Religion oder sexueller Orientierung diskriminiert wird? Hier gäbe es noch einiges zu tun. Geht man einen Schritt weiter, dann müssten nicht nur die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen ausgeglichen werden, zum Beispiel die soziale Stellung des Elternhauses. Sondern auch die unterschiedlichen individuellen Merkmal wie Talent oder Gesundheit.
Das ist kaum zu erreichen. „Kinder reicher Eltern haben oft einen entscheidenden Startvorteil und es ist die Frage, ob der je ganz nivelliert werden kann“, sagt der Wirtschaftsweise Peter Bofinger. Und der Ausgleich individueller Anlagen wird von der Politik gar nicht erst angestrebt.
Doch selbst wenn Gleichheit der Chancen umgesetzt wäre, mehr soziale Gleichheit gäbe es dadurch nicht. Denn die Chancengleichheit zielt nur auf die – kaum erreichbare – Gleichheit der Ausgangsbedingungen der Konkurrenz. Nicht ihrer Ergebnisse. Wenn sich 50 Bewerber mit gleichen Chancen auf einen Job bewerben, wird ihn nur einer bekommen – der Rest geht leer aus, unabhängig von der Verteilung der Chancen.
Vom Tellerwäscher zum Millionär
Zudem ändert Chancengleichheit nichts an der Höhe der Einkommen – ein Investmentbanker verdiente noch immer ein Vielfaches dessen, was eine Altenpflegerin erhält. „Auch bei gleichen Chancen hat der Großverdiener ja immer noch mehr als der Geringverdiener“, erklärt Bofinger. Die Idee, Chancengleichheit würde zu weniger materieller Ungleichheit führen, beruht auf dem Traum, alle könnten durch vermehrte Bildung vom Tellerwäscher zum Millionär, von der Supermarktkassiererin zur Bundeskanzlerin aufsteigen. „Bessere Bildung für bessere Aufstiegschancen – für den Einzelnen kann diese Rechnung aufgehen, für alle nicht“, wendet Bofinger ein. Eine bessere Qualifikation kann zwar einigen den Aufstieg ermöglichen. Doch an der Spitze ist nicht Platz für alle. Aufwärtsmobilität für einige bedeutet gleichzeitig zwangsläufig eine Abwärtsmobilität für andere, so der Ungleichheitsforscher Branko Milanovic.
Bessere Bildung für bessere Aufstiegschancen – für den Einzelnen kann diese Rechnung aufgehen, für alle nicht.
Peter Bofinger, Wirtschaftsweiser
Das erkennt der Sachverständigenrat irgendwie zwar an: „Eine verbesserte Chancengerechtigkeit könnte langfristig die Einkommensmobilität erhöhen. Dies könnte, muss aber nicht notwendigerweise zu einer Reduktion der Einkommensungleichheit führen.“ Dennoch plädiert er für Chancengerechtigkeit. Denn wenn alle gleiche Bedingungen vorfinden, entscheidet über Erfolg und Misserfolg nur noch die individuelle Leistung, nicht mehr die Herkunft. „Materielle Ungleichheit ist gerecht, wenn sie auf unterschiedlichen individuellen Leistungen aufbaut“, so auch die FDP und verweist auf „die Verantwortung des Einzelnen für sein persönliches Glück“.
Damit wäre Chancengerechtigkeit kein Mittel gegen die Spaltung in Arm und Reich, sondern ihre Rechtfertigung. „Mit Chancengleichheit kann man die ungleichen Marktergebnisse entschuldigen“, kritisiert Horn vom gewerkschaftsnahen Institut IMK. „Man legitimiert die bestehende Ungleichheit, anstatt sie zu bekämpfen.“ Gleichzeitig diene die Forderung nach Chancengerechtigkeit oft als Argument gegen eine direkte Senkung der Ungleichheit per Umverteilung. So wandte sich der Sachverständigenrat gegen die Einführung des Mindestlohns mit dem Argument, er mindere die Chancen Langzeitarbeitsloser auf einen Job.
Gegen Ungleichheit, so Horn und Bofinger, helfe aber nur Umverteilung. Zum Beispiel über höhere Steuern für Reiche, über Sozialleistungen oder über Maßnahmen am Arbeitsmarkt. Beispiel Pflegeberufe: Hier verdient man Vollzeit durchschnittlich 2412 Euro pro Monat. Männer kommen auf 2633 Euro, Frauen nur auf 2315. Für gleiche Chancen zu plädieren würde sich zum Ziel setzen, dass Frauen und Männer gleich viel verdienen – also alle gleich schlecht. Für Umverteilung zu plädieren würde eine Anhebung der geringen Einkommen bedeuten – zum Beispiel durch stärkere Tarifbindung, da in den tarifgebundenen Betrieben knapp ein Viertel mehr verdient wird als in den anderen.
Chancengerechtigkeit statt Umverteilung – diese Entgegensetzung geht nicht auf. Gleiche Chancen sind wünschenswert. Aber nur wenn mehr gut bezahlte Jobs entstehen und die unteren Einkommensgruppen mehr verdienen, geht die Ungleichheit zurück – und nicht dadurch, dass die guten Jobs von den Aufsteigern besetzt werden