Die Wirtschaft drohe zu überhitzen, die Umverteilung müsse ein Ende haben, warnen die Wirtschaftsweisen in ihrem Jahresgutachten. Das Gremium widerspricht sich jedoch an entscheidenden Stellen selbst.
„Für eine zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik“: Unter diesem Titel stellt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung am Mittwoch sein neues Jahresgutachten vor. Die Wirtschaftsweisen fordern darin von der neuen Bundesregierung eine Neujustierung der Wirtschaftspolitik, die den Wohlstand in Deutschland langfristig sichern soll. Trotz vieler guter Punkte verstrickt sich das Gutachten in drei grundlegende Widersprüche, die eine neue Bundesregierung unbedingt vermeiden sollte.
Deutschland geht es gesamtwirtschaftlich so gut wie selten in den vergangenen 40 Jahren. Ein wahres Jobwunder hat die Beschäftigtenzahl auf ein Rekordhoch und die Arbeitslosenzahl auf einen neuen Tiefststand gebracht. Deutsche Exportunternehmen sind global hoch wettbewerbsfähig und fahren Jahr für Jahr Rekordüberschüsse ein. Und der deutsche Staat macht riesige Überschüsse von voraussichtlich mehr als 30 Milliarden Euro allein in diesem Jahr.
Daher liegt der Sachverständigenrat richtig mit seiner Forderung, dass die neue Regierung nicht weiter einen Verteilungskampf in Deutschland schüren darf, sondern diese Überschüsse klug für Zukunftsinvestitionen verwenden sollte. Lange standen die Wirtschaftsweisen auf Kriegsfuß mit Analysen, die Deutschland eine Investitionsschwäche attestieren. Mittlerweile haben Sie eine Kehrtwende vollzogen und erkennen an, dass Zukunftsinvestitionen in Bildung und Infrastruktur von fundamentaler Bedeutung für Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit sind. Richtig liegt der Sachverständigenrat auch mit der Forderung, die digitalen Netze endlich so auszubauen und verbessern, dass sie nicht zu einem Hemmschuh für die deutsche Wirtschaft und deren Wettbewerbsfähigkeit werden.
Der erste Widerspruch des Gutachtens ist jedoch seine Forderung nach massiven Steuerentlastungen von bis zu 30 Milliarden Euro über die Einkommensteuer und die Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Denn gleichzeitig behaupten die Wirtschaftsweisen, der deutschen Wirtschaft drohe eine Überhitzung. Der Sachverständigenrat befürwortet somit eine prozyklische Finanzpolitik, die über Steuersenkungen die Wirtschaft noch weiter ankurbeln will und damit erst recht eine Überhitzung fördern würde.
Eine kluge, antizyklische und zukunftsorientierte Finanzpolitik wäre dagegen eine, die die Angebotsseite der Wirtschaft kurz- wie langfristig stärkt. Dies kann die Politik vor allem über eine Entlastung von Menschen mit geringen Einkommen tun, sodass sich Arbeit mehr lohnt und das Arbeitsangebot dieser Menschen steigen kann. Und eine kluge Finanzpolitik sollte die Zukunftsinvestitionen in Bildung, Innovation und Infrastruktur stärken, sodass langfristig vor allem die Produktivität und damit Einkommen und Wohlstand steigen.
Welche Überhitzung?
Der zweite grundlegende Widerspruch des Sachverständigenrats ist die Behauptung, es gebe eine akute Überhitzungsgefahr der Wirtschaft, sowohl in Deutschland wie in der gesamten Eurozone. Er nimmt diese Behauptung als Grundlage für seine Kritik an der Europäischen Zentralbank und der Forderung nach einer restriktiveren Geldpolitik.
Dabei bleibt das Gutachten überzeugende Argumente für eine solche Überhitzung schuldig. Denn die Wirtschaftsleistung der gesamten Eurozone ist heute wenig stärker als noch vor zehn Jahren. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, Konsum und Investitionen nach wie vor vergleichsweise schwach. Es gibt also keinerlei Belege dafür, dass wir uns Sorgen über eine zukünftige Inflation oder gar Überhitzung machen müssten. Dies gilt nicht nur für die Eurozone als Ganzes, sondern auch für Deutschland. Denn hierzulande sind die Preisentwicklung und selbst die Lohnentwicklung nach wie vor sehr moderat.
Der dritte Widerspruch des Gutachtens ist die Forderung, die neue Bundesregierung solle sich abwenden von einer Politik der Umverteilung und sich anstelle dessen auf Zukunftsinvestitionen konzentrieren. Das ist an sich richtig, denn die gute Lage hat auf allen Seiten große Begehrlichkeiten geweckt. Viele Diskussionen der möglichen Jamaikakoalition drehen sich um das Bedienen der jeweiligen Wählerklientele statt um die Frage, was für die gesamte Gesellschaft langfristig sinnvoll ist.
Fast im gleichen Atemzug fordert der Sachverständigenrat jedoch die größte Umverteilungsmaßnahme der letzten Jahrzehnte – indem er eine massive Steuerentlastung der Einkommensstarken durch eine Abschaffung des Soli und eine Senkung der Einkommensteuer vorschlägt. Vor allem das Soli-Aus wäre eine massive Umverteilung – und zwar von unten nach oben, von arm zu reich.
Denn 90 Prozent der Abschaffung des Soli kommen dem reichsten Drittel der Bevölkerung zugute, die untere Hälfte dagegen wird dadurch fast gar nicht entlastet. Dabei wäre eine Steuerentlastung der einkommensschwächeren Menschen in Deutschland durchaus möglich und wirtschaftlich gesehen sehr viel sinnvoller, weil sie Anreize für mehr Arbeit und bessere Einkommen schaffen würden.
Marcel Fratzscher, Präsident des DIW
© Spiegel online, 09.11.2017