Arbeit 4.0, Automatisierung, Digitalisierung – nur Schlagwörter oder konkrete neue Organisationsformen von Arbeit, Bedrohung oder Fortschritt? – darüber informierten sich und diskutierten die Mitglieder der Reinickendorfer SPD-Arbeitsgemeinschaften für Arbeitnehmerfragen (AfA) und der Selbständigen (AGS) sowie der SPD-Abteilung Freie Scholle/Tegel auf einer gemeinsamen Veranstaltung am 27. November 2017. Gast und Referent war Rainer Perschewski, Betriebsrat bei der Zentrale der Deutschen Bahn und Mitglied des Bundesvorstands der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG).
Arbeit 4.0 mehr als ein Gedankenprodukt
Rainer Perschewski stellte in seiner Einleitung klar heraus, dass sich die Arbeitswelt bereits seit Jahrzehnten in einem Umbruch befindet: Wir stehen nicht am Anfang einer technischen Neuerungswelle, sondern befinden uns mitten drin, „alles andere ist Täuschung“, so Rainer Perschewski, die Menge technischer Neuerungen habe in den letzten zehn Jahren drastisch zugenommen. Auch wenn der Begriff Arbeit 4.0 dem „Grün- und Weißbuch“ der Bundesregierung – hier konkret dem Bundesarbeits- und Sozialministerium unter Führung von Andrea Nahles (SPD) – entstammt, handelt es sich nicht um ein virtuelles Gebilde, sondern um aktuelle Realität: Automatisierung und Digitalisierung von Arbeitsprozessen, verbunden mit Rationalisierung und Wegfall von Arbeitsplätzen, sind die Herausforderungen, denen sich die Politik und vor Ort Gewerkschaften und Betriebsräte zu stellen haben. Dies betrifft nicht nur Bereiche wie Organisation, Verwaltung und Buchführung, sondern auch die Produktion, wo Herstellung- und Maschinensteuerung zunächst in der industriellen Massenproduktion, inzwischen auch in Handwerksbetrieben, schon seit Jahren die Produktion verändert haben. Grenzen sind der Digitalisierung am ehesten in Bereich der personengebundenen Dienstleistungen, der direkten Betreuung, Bildung, Ausbildung, Pflege gesetzt sowie im gesamten kulturellen Bereich, soweit es sich nicht um die Organisation dieser Dienstleistungen handelt.
Neue flexible Formen der Arbeitszeitgestaltung
Wie wirkt sich die Digitalisierung auf die Arbeitszeit aus? Das ist eines der herausragenden durch die Computerisierung bedingten Probleme. Der Arbeitgeberwunsch nach ständiger Verfügbarkeit des Arbeitnehmers via Rechner oder Smartphone kann für den Arbeitnehmer zum Alptraum werden. Gegen die Gefahr der „Entgrenzung“, der Verwischung von Arbeitszeit und Privatleben, gegen die zunehmende Arbeitsverdichtung durch den Wegfall von Unterbrechungen, hilft nur eins: Gegengrenzen setzen und die Arbeitnehmer entlasten. Hier forderte der Gewerkschafter eine deutliche Verkürzung der Arbeitszeit: von der 48- Stunden-Woche zur 40-Stunden-Woche. Netzabschaltung, wie bei VW praktiziert, kann die Arbeitnehmer/innen vor der totalen Verfügbarkeit durch die Arbeitgeber schützen.
Im Bereich des „flexiblen Arbeitens’“ können sich aber durchaus die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern treffen. Arbeit zu Hause oder „Homeoffice“ eröffnen dem Arbeitnehmer eine bessere Vereinbarung von Familie und Beruf. Dem Unternehmer bieten sich neue Möglichkeiten, Arbeitsstrukturen effizienter zu gestalten, Kosten zu sparen und die Fähigkeiten von Mitarbeitern besser zu nutzen. Auch Regelungen für die schon lange bekannte sogenannte „kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit“ (KAPOVAZ) sind denkbar, wenn durch verbindliche betriebliche Vereinbarungen gesichert ist, dass dies nicht einseitig die Arbeitnehmer belastet.
In jedem Fall setzt die Einführung von flexiblem Arbeiten von Anfang an die kontinuierliche Einbeziehung der Mitarbeiter/innen und deren Vertretung voraus. Hier sind die Betriebsäte gefordert. Die Teilnahme am flexiblen Arbeiten muss freiwillig sein, Teilnahme oder Nichtteilnahme am flexiblen Arbeiten darf keine Nachteile für die Mitarbeiter/innen zur Folge haben.
Rationalisierungen – nicht zu Lasten der Arbeitnehmerschaft
„Wir stehen vor einer gewaltigen Automatisierungswelle, dies darf nicht auf dem Rücken der Arbeitnehmerschaft ausgetragen werden“, verlangte hierzu Rainer Perschewski. Nicht überall könne dies so problemlos ablaufen wie im Bahnbereich. Dort werden in den nächsten Jahren zahlreiche Mitarbeiter in Rente gehen, so dass die Anpassung mehr oder weniger automatisch erfolgt. Wenn es hier keine klaren Signale an von Arbeitsplatzwegfall bedrohte Arbeitnehmer gibt, drohen Verunsicherung, Resignation und Angst, die auch in politische Radikalisierung umschlagen können. Hier müsse auch die Politik handeln: Perschwewski erwog die Einführung einer Maschi-nensteuer. Auf Betriebebene sei auch der Einsatz von Rationalisierungsgewinnen für Maßnahmen der Weiterbildung der Beschäftigten zu fordern. Auch mit Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich kann verhindert werden, dass aus geschätzten Mitarbeitern/innen „Rationalisierungsopfer“ werden.
Fort- und Weiterbildung der Beschäftigten spielen eine zentrale Rolle beim Einsatz der neuen Technologien und bei der Sicherung von Arbeitsplätzen. Vieles Wissen, das Mitarbeiter/innen einmal erworben haben, ist veraltet, ihre Qualifikationen sind nicht mehr gefragt. Hier kann nur durch umfassende Fort- und Weiterbildung gegengesteuert werden. Für Finanzierung und Beteiligung der Beschäftigten sind auf betrieblicher Ebene geeignete Modelle zu entwickeln. Gesamtgesellschaftlich stellt sich auch die Frage, was mit den Menschen geschieht, die bei den Neuerungen nicht mehr mitkommen und „auf der Strecke zu bleiben“ drohen. Staat und Gewerkschaften sind hier aufgefordert, auch diesen Menschen existenzsicherndes Arbeiten zu ermöglichen.
„Schöne neue Arbeitswelt“ und Entsolidarisierung
„Die neuen technischen Möglichkeiten müssen zu einer besseren Gestaltung der Arbeitswelt genutzt werden und zu einer Entlastung der Beschäftigten führen, sie dürfen nicht Anlass für eine ‚Maschinenstürmerei’ werden“, betonte hierzu Perschewski. Wie auch mehrere Diskutanten sah er die Gefahr der „Entsolidarisierung“ durch die Individualisierung der Arbeitsorganisation. Ein Signal hierfür sei das nachlassende Interesse an Betriebsversammlungen. Engagierte Betriebsräte können hier gegensteuern durch phantasievolle und interessante Gestaltung von Betriebs-versammlungen. Ein weiterer Hinweis kam aus dem Teilnehmerkreis: Die Rechte der Betriebsräte seien ein „zahnloser Tiger“, ihre Rechte müssten dringend gestärkt werden, dann wachse auch das Interesse an Betriebsversammlungen. Hier sei auch die künftige Regierung in der Pflicht.
Die beteiligten SPD-Gliederungen verstanden dies auch als Aufforderung, diese Prozesse kritisch zu begleiten und mit entsprechenden Anträgen zu unterstützen.
Gabi Thieme-Duske