– Veranstaltung der SPD zur Gerechtigkeitsdiskussion –
„Wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit in Deutschland. Es ist gut, dass Martin Schulz diese Forderung wieder ins Gespräch gebracht hat.“ Mit diesen Worten leitete der Reinickendorfer AfA-Vorsitzende Sven Meyer eine gemeinsame Veranstaltung mehrerer AfA-Kreisverbände und der SPD-Abteilung Lübars/Waidmannslust/Wittenau am 4. 4. 2017 im mit über 70 Gästen gut gefüllten BVV-Saal im Rathaus Reinickendorf ein. Dazu diskutierten, moderiert von Uwe Januszewski von der AfA Tempelhof-Schöneberg, die Kreuzberger SPD-Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe und der ver.di-Bundesvorsitzende Frank Bsirske.
Die beiden Diskutanten Cansel Kiziltepe und Frank Bsirske, in der Mitte Uwe Januszewski
„Deutschland ist eine Steuer-Oase“
Den Auftakt machte Frank Bsirske. Er nannte eine ganze Reihe von Ungerechtigkeiten im Land:
Frauen verdienen im Schnitt weniger als Männer, die Durchschnittsrenten sind zu niedrig und würden der Lebensleistung der arbeitenden Menschen nicht entsprechen, vor allem Geringverdiener haben unter dem Grundsicherungsniveau liegende Renten. Einkommen von Spitzenverdienern sind exorbitant hoch und stehen in keinem Verhältnis zu den Verdiensten der Mehrheit der Beschäftigten und vor allem der Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen. Das alles geschieht auf dem Hintergrund einer „steuerpolitischen Reichtumspflege“: Hohe Vermögen und Einkommen sowie reiche Erben werden begünstigt, sie leben in einer Steuer-Oase, in der sie sich der Steuerpflicht und der Beteiligung an den Kosten des Gemeinwesens weitgehend bequem entziehen können. Bsirske meinte, dass hier etwas aus den Fugen geraten sei, er warnte vor der Gefahr des Auseinanderbrechens des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft
SPD ist in der Pflicht
Bsirske sieht die SPD in der Pflicht, das Rad vorwärts zu drehen: Sie habe durch die Agenda-Politik in den letzten Jahren zwar Vertrauen in der Bevölkerung verloren. Mit Martin Schulz habe sie jetzt aber die Chance, das Thema der sozialen Gerechtigkeit wieder in das Zentrum ihrer Politik zu stellen und engagiert für eine gerechtere Verteilung von Einkommen und Vermögen, für soziale Bürgerrechte und für Chancengleichheit in der Bildung einzutreten und so Vertrauen zurückzugewinnen. Schulz sei glaubwürdig und verdiene Unterstützung.
Bsirske sieht für die SPD drei Handlungsfelder:
- Sicherung einer leistungsfähigen Rentenversicherung und einer paritätischen Krankenversicherung:
Bsirske forderte einen Kurswechsel in der Rentenversicherung. Die Teilpriva-tisierung in der Rentenversicherung mit der Riester-Rente sei fehlgeschlagen, von Betriebsrenten würde nur ein Teil der Beschäftigten profitieren. Er betonte die Bedeutung des Rentenniveaus.
Dies müsse ab 2020 wieder auf 50% angehoben werden, der Beitragssatz solle nicht über 25 % steigen. Um das zu finanzieren, müsse der Beitragssatz jährlich um 32 Milliarden Euro erhöht werden. Außerdem müsse die Rente von Geringverdienern aufgestockt und die Erwerbsminderungsrenten angehoben werden.
Für die Krankenversicherung verlangte Bsirske die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung. Die einseitige Belastung der Arbeitnehmer durch Zusatzbeiträge müsse beendet werden.
- Sichere Arbeit und Stärkung des Tarifsystems:
Bsirske forderte hier die Verbesserung der Tarifbindung. Die Allgemein-verbindlichkeit von Tarifverträgen solle erleichtert werden. Er prangerte Ausgliederungen mit Schlechterstelllung der Beschäftigten an und hält einen Stopp der sozialen Erosion mit prekarisierter Arbeit (Minijobs, Leiharbeit, Scheinselbständigkeit und sachgrundloser Befristung) für dringend notwendig.
- Handlungsfähiger Staat:
Die Unterfinanzierung von Schulen, Universitäten, Krankenhäusern, aber auch von Straßen, Brücken und Schienenanlagen müsse ein Ende haben, reklamierte Bsirske. Diese massiven Investitionsdefizite seien die Folge von Steuerausfällen durch Schonung von hohen Vermögen, Einkommen und reicher Erben. Konsequenz müsse sein, durch ein gerechtes Steuersystem alle Bürger*innen gemäß ihrer Leistungsfähigkeit an der Finanzierung öffentlicher Leistungen und Infrastruktur zu beteiligen.
Kiziltepe fordert Rot-Rot-Grün für die Durchsetzung sozialer Reformen
Cansel Kiziltepe ergänzte die Ausführungen von Frank Bsirske aus ihrer Sicht als Abgeordnete aus Kreuzberg, wo sie direkt mit der Not von Menschen konfrontiert wird. Sie prangerte die Ungerechtigkeit bei der Belastung von Mietern durch hohe Mieten an. Dadurch würden Menschen gezwungen, ihre Wohnungen und auch die dazugehörenden sozialen Bindungen aufzugeben. Dies können Sozialdemokraten nicht dulden. Sie forderte ein „Menschenrecht Wohnen“.
Die Abgeordnete wies außerdem auf die Ergebnisse des letzten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung hin. Die Verteilung von Einkommen und Vermögen wurde im Laufe des letzten Jahrzehnts immer weiter gespreizt. Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung verfügen nur über rund 1 % des gesamten Nettovermögens, während die vermögendsten 10 % der Haushalte über die Hälfte des gesamten Nettovermögens auf sich vereinen. Dabei spielen auch Erbschaften und Schenkungen eine gewichtige Rolle.
Aus den Erkenntnissen des Berichts müssen mit Blick auf den Bundestagswahlkampf die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden. Die Verfestigung der Armut in Deutschland und das weitere Auseinanderdriften der Vermögensverteilung können wir nicht akzeptieren, meinte Kiziltepe. Wenn in einer Gesellschaft die soziale Ungleichheit wächst, dann sinkt das Vertrauen in Politik und Demokratie.
Wie ihr Vorredner kritisierte Kiziltepe heftig die Steuerpolitik der großen Koalition. Trotz vernünftiger Forderungen im SPD-Wahlprogramm sei mit der CDU keine gerechtere Steuerpolitik machbar gewesen, weil diese sich grundsätzlich jedweder Erhöhung von Steuern verweigerte und auch nicht bereit war, gegen Steuerhinterziehung entschiedener vorzugehen. Um der Ungleichheit im Steuersystem gegenzusteuern, seien die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und die Erhöhung der Erbschaftssteuer dringend notwendig. Deshalb brauchten wir andere politische Mehrheiten im Bund, sie trete für ein Rot-Rot-Grünes Bündnis nach den Wahlen ein. Anders ließen sich unsere Forderungen nicht realisieren.
Keine verschleierte Steuererhöhung durch KfZ-Maut
Aus aktuellem Anlass ging Kiziltepe ausführlich auf die Einrichtung einer Infrastrukturgesellschaft ein, die die so genannte PKW-Maut einziehen und davon Straßenbau finanzieren soll. Sie machte aus ihrem Ärger über die Stimmenthaltung von SPD-Bundesländern und dem rot-rot-grün-regierten Thüringen im Bundesrat keinen Hehl. Sie sei überzeugt, dass die Maut eine heimliche de-facto- Steuererhöhung bedeutet, bei der durch einen Schattenhaushalt die Schuldenbremse umgangen werden soll. Wenn es hier nicht noch entscheidende Änderungen gibt, werde sie bei der Schlussabstimmung im Bundestag nicht zustimmen.
Kritische Fragen aus dem Publikum
Hier melden sich engagierte Gewerkschaftsmitglieder, beschäftigt bei Vivantes, zu Wort
In der Publikumsrunde wurde die Frage prekarisierter Arbeit durch Ausgliederung von Betriebsteilen aus dem direkten öffentlichen Dienst angesprochen. Eine Erweiterung des Streikrechts, um mittels Arbeitskampfmaßnahmen Ausgliederungen begegnen zu können, strebt Bsirske nicht an. Stattdessen will er den Ausgründungen mit einer Tarifnachwirkung auch für Konzerntöchter begegnen. Eine Teilnehmerin spach das Problem des Wegfalls von Arbeitsplätzen durch die zunehmende Digitalisierung der Wirtschaft an. Bsirske meinte hierzu, dass der Wegfall von Stellen möglicherweise durch neue Arbeitsplätze ausgeglichen werden könne. Voraussetzung dafür sei aber, dass der Qualifizierungs-bedarf bewältigt werde.
Auf die Frage nach der Rücknahme von Hartz IV stellte Bsirske dar, dass diese so genannten Reformen eine Freigabe der Lohnentwicklung nach unten und eine Deregulierung der Arbeitsverhältnisse zur Folge hatten. Er sehe das Bemühen der Bundesregierung, z.B. durch die Einführung des Mindestlohns, diese Deregulierung zu reregulieren. Dem Anfang müssen weitere Maßnahmen folgen.
Abrechnung mit Schuldenbremse und „Schwarzer Null“
Zum Schluss rechneten Bsirske und Kiziltepe mit der Schuldenbremse ab. Sie sei nicht nur unnötig, sondern für die Wirtschaft kontraproduktiv. Der Staat schränke sich selbst in seiner Handlungsfähigkeit ein, notwendige Investitionen unterblieben. Schäuble trage die „Schwarze Null“ wie einen Popanz vor sich her, das sei unehrlich, wenn gleichzeitig steuergleiche Abgaben von den Bürgern erhoben würden. Solch einer „heuchlerischen Politik“ müsse man sich verweigern und ein rot-rot-grünes Bündnis unterstützen.
Gabi Thieme-Duske
Bericht zum Download
Bericht der AfA Charlottenburg-Wilmersdorf zur Veranstaltung